Radom. . . und ich putzte die Fenster/ A ja myłam okno.

Weiter unten ausschnitte aus dem text. Das ganze essay samt politisch- und kulturgeschichtlichem hintergrund ist hier zu finden, also als PDF herunterlandbar:

Der ganz text ist hier zu finden.

Ohne jegliche vorwahrnung brach es über uns herein.Freeze, I’m Ma Baker, put your hands in the air! Gimme all your money! This is the story of Ma Baker, the meanest cat from old Chicago town. Üblicherweise wurden in dieser kneipe die aktuellen hits abgespielt, dementsprechend war ich leicht irritiert discopop aus dem 1970igern zu hören. Ich warf blick auf den bildschirm und entdeckte im hintergrund der bühne eine neonlichtinschrift; außer dem ersten buchstaben erkannte ich alle. Diese ergaben:

O-P-O-T 1979.



Mooggie erzählt. . .

Zum einem: Nicht in Moskau, sondern in Leningrad. Radom war im jahre 1976, Bonny M kam 1979. Die zwei sachen haben null miteinander zu tun.
Nun, was die beliebtheit von Bonny M betrifft:

Da geht es nicht nur um Rasputin. Klar, dass war auch so ein ha-ha-ha, zensur und dergleichen. Es ging darum — mag sein, dass ich mich immer wieder wiederhole, ich weiß ja selber nicht mehr, was Du weißt, was Du nicht weißt. Ich erzähl einfach, wie es war.

Atmet tief ein.

In der zeit von Gierek, also anfang dier 1970iger, also die Küste ’70 bis Solidarność ’80 auf der einen seite die Propaganda Sukcesu (Erfolgspropaganda), staatskredite, dank derer es bunte strumpfhosen und weiße schokolade gab, aber auch so ein bisschen die möglichkeit in den Westen auszureisen. Und diese sehnsucht nach dem Westen. Du musst verstehen, alles, was westlich war, das war wie eine pralinenschachtel und ein bombon in glitzerpapier. Naja, und so ein Bonny M im vergleich zu diesen breslauer platenbauten und den in sich zusam- menfallenden altbauten, von den deutschen hinterlassen, und den kaputten bürgersteigen…

Kann gut sein, dass Du Dich noch an so ein Polen erinnern kannst, aus den anfängen der 1990iger. Aber das hier, das war nochmal schlimmer. Denn, als wir zum ersten mal in Polen waren, da gab es wenigstens noch diesen sich anbahnenden kapitalismus, paar bunte geschäfte, solche sachen halt. Aber das hier, das war einfach nur grau in grau in grau. Und im vergleich dazu so eine bunte band, wie Bonney M — das war einfach nur super!

Die tatsache, dass die überhaupt nach Polen gekommen sind, ich habe Dir das aber schon mal erklärt. Ich weiß, Du kannst das nicht mehr hören! Damit Du jedoch verstehst — um dies zu verstehen — was die leute einfach nicht verstehen können; man muss verstehen, was das bedeutet, dieser Eiserne Vorhang. Dieser Eiserne Vorhang, der war schon etwas durchlässig geworden. Aber weißt, alles, was Westlich, weißt, deswegen kamen nach Polen diese drittklas- sigen bands, zu den festivals bspw in Sopot, bands, die niemand bei denen zu hause kannte. Irgendwelche niederländischen oder andere englischen. Und weißt, bei uns alles, was anderes artig war, bunt war, westlich war — das war einfach nur super. So kam es zu Bonney M. Nicht nur Rasputin und überhaupt hat das nichts mit Radom zu tun.

Du, dass war so — Du musst Dir das so vorstellen — stolpert über ihre eigenen wörter es ging darum sammelt sich. Die erste form des protestes gegen das Polnische Fernsehen war der sogenannte Schauspielerstreik während des Kriegszustandes gemeint ist das Kriegsrecht zwischen 1981 und 19835. Ein thema, über welches, soweit ich weiß, Du sehr viel weißt. Generell kam es niemanden in den sinn kein fernseh zu schauen. Es gab halt nichts anderes zur auswahl. Es gab nur zwei fernsehsender, die leute schauten sogar die nachrichten um halbwegs mitzubekommen, was in der welt vorging. Und filme hat man geschaut. Mehr gab’s halt nicht.

Was nun Radom angeht, das war eine ganz einfache sache. Wenn man in diesem land lebte
und halbwegs geistesgegenwärtig war, da wusste man auch schon mit sechszehn was los war. Besonders, wenn man in der Grudzioncka Straße6 wohnte. Ich weiß es noch, wie gestern. Schema F. Preiserhöhung — streiks — und dann lösung des problems. So war es 1956 in Posen, so war es 1970 an der Küste. Meistens lief es so ab: Streiks, dann paar tote und schließlich nahm die regierung die preiserhöhungen zurück.

Überhaupt, einfach nur dieses Schema F, welches sich immer und immer wieder wiederholte:
Wirtschaftliche probleme führten zu gesellschaftlichen unruhen. Die regierung versuchte irgendwie damit fertig zu werden. Einer ging, der nächste kam.
Und im jahre 1976 — ich weiße es noch, als ob es gestern gewesen wäre. Das war für mich ein wirklich erschütterndes erlebnis. Im mittleren zimmer in der Grudzionska — heute würde es man es als wohnzimmer bezeichnen — meine Mama war sicherlich da, und Frau Mecia, wahrscheinlich auch Frau Adela, die Mama von Mecia. Wahrscheinlich auch Frau Krajewska, kurz gesagt, das übliche ründchen von nachbarinnen. Der fernseher war an, aber das waren noch nicht die abendnachrichten, das muss am nachmittag gewesen sein.
Ich putzte die fenster, weißt Du? Mama hat mich gebeten die fenster zu putzen. Nun stand ich da und putze die fenster so vor mich hin, während der rest der mädels vor dem fernseher saßen.
Und nun trat Jaroszewicz vor. Das war der premierminister. Dieses mal ging es um zucker. Denn damals an der Küste im jahre 1970 — da ging es um’s fleisch. Nun gingen die preise für zucker um hundert prozent hoch. Auch für andere lebensmittel, aber hauptsächlich ging es um den zuckerpreis. Schon da wusste man, was passieren und was das bringen wird. Eben dieser Radom und dieser Ursus. Wieso gerade Radom? Das war jetzt keine bekannte stadt, eine stadt mittleren größe. Da gab es einfach viele große fabriken und dort riss den leuten der geduldsfaden. Einmal riss den leuten der faden in Posen, einmal an der Küste und diesmal riss den leuten der geduldsfaden in Radom.
Naja, und dieses Radom, das war ein massaker auf ganzer linie. Die regierung ruderte schnell wieder zurück, von dem, was ich weiß, sahen die ganz von den preiserhöhungen ab. Es fing jedoch so eine hetze an, an so eine, ehrlich — ich habe die aufstände an der Küste im 1970 mitbekommen. Da kam alles recht schnell wieder zur ruhe. Klar, es gab 1970 tote, aber hier, 1976 in Radom, das war einfach nur noch der horror. Im fernsehen von morgens bis abends nur diese propaganda gegen die arbeiter aus Ursus und Radom. Daher entstammt auch KOR — Komitet Obrony Robotników. Die arbeiter wurden geuä

ält, gefeuert und auf fürchterlichste art und weise verfolgt. Verhaftet wurden sie und jegliche lebensgrundlage wurde ihnen genommen.
Die waren wehrlos und nicht genug. Ich weiß noch, wie sehr uns das mit unserer mädchenclique mitnahm. Man trieb arbeiter zusammen, bspw. in die Jahrhunderthalle in Breslau. Man
trieb sie zu kundgebungen zusammen. Und auf diesen kundgebungen! Ich sag Dir, dass war die reinste Goebbelspropaganda! Die leute standen nur so da — parolen — plakate — und alle riefen „Ihr störenfriede und provokateure aus Radom!“, dass war der hauptvorwurf. Man schrie irgendwelche parlonen, alle in reih und glied, der applaus in reih und glied. Das war nicht mehr auszuhalten! Ich war fix und fertig.

Dieses mal zog man weder die jugend, noch die studenten mit rein, mit den letzteren gab es eh immer nur probleme. Man hetzte arbeiter auf arbeiter, das war das fürchterliche! Das lief die ganze zeit im fernsehen und alle nur „wir unterstützen den Genossen Gierek“, „Weg mit den störenfrieden aus Radom“. Ich weiß nicht mehr die ganzen parolen, man kann das sicherlich noch nachschlagen.

Aber es war einfach nur furchtbar. Furchtbar und grauenhaft.

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